Dienstag, 15. März 2011

Das Freischwimmer-Festival 2011

Die Aufmerksamkeit eines Onlinelesers, die er dem aufblinkenden Text widmet, ehe er entscheidet, ob er weiterliest oder weiterklickt, beträgt etwa zehn Sekunden. Diese Zeit dürfte jetzt bereits vorbei sein. [Vorrede zu lang? Hier geht’s los.] 
Die Aufmerksamkeit eines Theatermachers und -gängers, der sich mehrmals wöchentlich Performances anschaut, dürfte sich auf einer äquivalent kurzen Zeitstrecke bewegen.
Beides ist problematisch. Ein Text im Internet muss mich sofort interessieren. Womit tut er das? Interessiert mich nur das, was mich zuvor schon interessiert hat? Suche ich nach Schlagwörtern, mit denen ich bereits zu tun habe? Oder gibt es Reizwörter, die mich auf neue Fährten führen?
Dieser Blog wird als Gespräch zwischen zwei Zuschauern/Künstlern zwischen einzelnen Stücken, übergreifenden Themen und Reflexionen im größeren Zusammenhang hin- und herspringen.


Zehn Sekunden. Vielleicht auch sieben Sekunden oder 30.

Ich: Wir beginnen. Wir haben bisher gesehen: „King of the Kings“ von Lovefuckers, „Notstand“ von Barbara Ungepflegt und „Furry Species“ vom „Institut für Hybridforschung“.
Was hat dir am besten gefallen? Diese simple Frage möchte ich zuerst stellen.

Du: „Furry Species“ hat mir am besten gefallen. Ehrlich gesagt, auch als Einziges.
Sehr stark fand ich darin die Verwandlung, weniger die des Menschen zum Hybriden, sondern mehr meine eigene innere Verwandlung. Ich bin mit einem veränderten Gefühl aus der Vorstellung gegangen. Das gelingt nur wenigen Performances. Wie ging es dir?

Ich: Mit einem veränderten Gefühl? Wie meinst du das?


„Furry Species“ war auch mein Highlight. Die Verwandlung als Thema hat mich sehr interessiert. Einerseits als Thema des Theaters an sich: Wo können Menschen nicht auch Tiere sein, wenn nicht auf einer Bühne? 
Und andererseits das Thema Verwandlung an sich. Ich empfinde dieses sehr zentral in Bezug auf den Entwicklungsprozess Leben, auf die Suche eines jeden Einzelnen, wie auch auf den Kosmos Menschheitsgeschichte.
Das konnte ich unter anderem in dieser Performance lesen.


Ich fand das Konzept insgesamt sehr ausgeklügelt! Das gefällt mir. Ich mag das offenbare Spiel mit der Fiktion. Wir wissen alle, dass das nicht sein kann: Also dass die Performerin in Hamburg zum Arzt geht und sich in einen Wolf umoperieren lässt, und doch wollen wir es glauben (ich zumindest), weil wir im Theater sind. Oder glauben es im Theatersinne. Für mich greifen da die geheimnisvollen Theatergesetze. Das ist Magie.


Warum schaut man sich das sonst die ganze Zeit an? Man weiß, es ist alles nicht wahr! Und trotzdem, man lässt sich gern belügen, und nicht nur weil die Story so interessant ist. So interessant war sie nämlich gar nicht. Sondern weil sie so fiktiv ist. Weil sie aber in dem Moment selbst vorstellbar wird.


Ich meine, wer weiß, ob es das nicht doch irgendwann geben wird. Oder ob es das doch nicht irgendwo auf der Welt gibt!? Ich habe ja auch der Ankündigung geglaubt. Ich habe schon kurz gedacht, dass es dieses Institut auch geben könnte. Also während der Performance dann nicht mehr. Sofort am Anfang war mir klar, dass die Performerin nicht wirklich daran forscht. Ihre Art der Begrüßung hat sie verraten. Sollte sie ja wahrscheinlich auch.


Ich fand das insgesamt alles sehr stimmig. Für mich hat diese Performance auch etwas sehr Wesentliches erfüllt: Sie hat mit dem Vorgang des Theaters an sich gespielt. Ohne blöde Selbstreflektionen zu betreiben. Aber sie hat eben auch nicht einfach blindlings darüber hinweggesehen, dass wir uns im Theater befinden. Ich finde das ganz schwierig, wenn das passiert. Ich kann mich dann oft nicht richtig einlassen, weil ich mich verarscht fühle. Ich will als Zuschauer ernst genommen werden als (Spiel-)Partner, wenn ich schon mitmache bei diesem Ereignis. Ich mag das nicht, wenn ich da als Zuschauer hingesetzt werde und vollgefüttert werde. Quasi betäubt. Bleibt ihr mal schön hinter der 4. Wand, wir machen hier ein bisschen Hokuspokus für euch!

Du: Ich bin anders in das Stück gegangen, für mich war schon der Name „Institut für Hybridforschung“ theatral markiert, das gehört für mich in die pseudowissenschaftliche Riege von „Labor für kontrafaktisches Denken“, auch ein Theaterprojekt.


Für mich hat aber genau diese Grundhaltung sehr gut funktioniert. Es herrscht von Beginn an die Geste, die besagt: Wir haben das alles nicht mehr nötig, wir müssen uns nichts mehr vormachen. Was den Weg genau dafür frei macht: Wir machen euch etwas vor, nämlich wie sich ein Mensch stufenweise in einen Wolf verwandelt. Da war das schönste Beispiel für den Wahnsinn zwischen Realität und Fiktion das Schaubild nach den Mendelschen Gesetzen. Das Kreuzungsschema kennt man aus der Schule, den Mensch mit Fell und wolfsartiger Kopfform nicht.


So abwegig ist die Idee des Hybriden aber auch wieder nicht. Es gibt Arten, die sich paaren können: Esel und Pferd > Maultier. Und mein Englischlehrer hat zu Schulzeiten die „Tomoffel“ gezüchtet, eine Kreuzung aus Kartoffel und Tomate.


Die Verwandlung hat für mich aber auch in die andere Richtung funktioniert, als die Performerin erklärte, dass im späteren Verlauf des Abends ihr Kollege auftreten werde, ein Bastard aus Wolf und Schäferhund. Als der auf die Bühne kam, habe ich tatsächlich zuerst lange Zeit einen „Wissenschaftler“ gesehen, und erst später den Hund: im Jaulduett der beiden, meinem Highlight des Abends (ich hätte beinahe mitgejault). Das Stück eröffnet Fantasieräume.


Mit dem veränderten Gefühl meine ich, dass diese unterschwellige Spannung, die von Anfang an da ist – durch das etwas zu leise Sprechen, durch die Sparsamkeit und Ökonomie von Handlung, Medien, Vortrag, eben durch die permanente Unaufdringlichkeit, die nur ein-, zweimal gebrochen wird, nämlich als die Performerin zu Boden geht und spuckt und als sie den „auratischen Schutzwall“ einer Zuschauerin durchbricht – dass diese Spannung sich auf mich übertragen hat. Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl: Da passiert noch etwas Schreckliches. Eben wie in den im Vorspann gezeigten Horrorfilmen.


Letztendlich war dieses Gefühl aber Ausdruck einer „Wut“ des Menschen, über sich hinauszugehen, sich nicht mit den Verhältnissen abzufinden o.ä. Etwas, was gar nicht thematisiert wurde, für mich aber spürbar wurde.


Hinsichtlich der genannten Unaufdringlichkeit war „King of the Kings“ ja das genaue Gegenteil: permanente Aufdringlichkeit, die für mich in einem Moment gegen Ende kumulierte, als ein Performer ins Publikum rief und marktschreierisch irgendeinen Zettel verkaufen wollte, und zwar an mich. Dass ich nicht auf ihn reagiert habe, weil ich sein Spiel unsubtil fand, hat er dabei einfach ignoriert und so lange und immer lauter geredet, bis er mir das Zettelchen seiner Meinung nach verkauft hatte.

Heute Abend schauen wir zwei weitere Stücke: „Souvereines“ von Chuck Morris und „Romantic Afternoon“ von Billinger & Schulz. 
Mal sehen, wie weit der „Notstand“ bis dahin geraten ist.